Re-imagining America
04.-19.12.2020*
"Talkin to me?"
Philipp Lachenmann
*zur Zeit geschlossen; voraussichtliche Verlängerung bis Ende Januar 2021, weitere Informationen folgen /currently closed; to be continued probably until end of January 2021, further information to follow
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Photo: “CHANDELIER (FatMan)” – Lichtskulptur. 100 × 48 × 48 cm, 2004/2017; Kristallglas, Lichtsystem, verchromter, polierter Edelstahl / Light sculpture, chrystal beads, lighting system, chrome plated, polished stainless steel
„You’re talking to me? ... You talkin’ to me? ... YOU talkin’ to ME? ... Well, I’m the only one here.“ Robert De Niro in Taxi Driver, 1976
Der Ausstellungstitel Talkin’ to me? bezieht sich auf eine Szene in dem prototypischen New-York-Film Taxi Driver (1976) von Martin Scorsese, in welchem Robert De Niro sein Spiegelbild − und die Betrachter*innen – mit einer klassischen Aggressionsgeste konfrontiert. Die für die Ausstellung zusammengestellten Arbeiten sind über die Jahre auf Reisen im Spannungsfeld zwischen Europa und Amerika entstanden und enthalten diverse persönliche Bezüge zu den Feldern Collective Memory/Collective Imagery, in denen sich neben historischen und kunsttheoretischen Referenzen auch politische Standpunkte reflektieren. Gezeigte Werke sind unter anderem Flags (Fabric), Statue of Liberty (Fract’al), Chandeliers (LittleBoy & FatMan), Scenic Review II (WTC) und Nuit Américaine (Black Light).
„You’re talking to me? ... You talkin’ to me? ... YOU talkin’ to ME? ... Well, I’m the only one here.“ Robert De Niro in Taxi Driver, 1976
The exhibition title Talkin' to me? refers to a scene from the prototypical New York film Taxi Driver (1976) by Martin Scorsese, where Robert De Niro confronts his reflection in a mirror – and the viewer – with a classic aggressive gesture.
These artworks were conceived during many travels between Europe and the Americas that resulted in a sense of cognitive tension. They contain diverse personal connections to the fields of collective memory and collective imagery – reflecting on political points of view as well as historical and art theoretical references. The exhibited artworks include Flags (Fabric), Statue of Liberty (Fract'al), Chandeliers (Little Boy & Fat Man), SCENIC REVIEW II (WTC), and Nuit Américaine (Black Light).
Fotos von oben nach unten/Photos from top to bottom
FLAG_Fabric (USA), Fotografie/photography, Lightjet Print, Diasec, Eichenholzrahmen/oakwood frame, 220 × 180 cm 2015
STATUE OF LIBERTY (Fract’al), Fotografische Serie/Epson Traditional, Rahmen/frames, diverse Größen/variable sizes, 2020
FLAGS (Fabric), 2015
Die Serie FLAGS (Fabric) besteht aus fünf großformatigen Fotografien von alten handgefertigten Fahnen, die in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs 1945 entstanden. Ihre vergleichsweise kleinen Originale hatte man 60 Jahre später auf dem Dachboden eines Berliner Gebäudes gefunden. Für das FLAGS-Projekt wurden diese Flaggen in jeweils sechs hoch aufgelösten Makroaufnahmen fotografiert, was die Historizität des Materials sichtbar macht. In der Ausstellung gezeigt wird die US-amerikanische Flagge, bei der den Hersteller*innen mehrere Fehler unterlaufen sind, zum Beispiel bei der Platzierung des Sternenteils der Fahne auf der rechten statt der linken Seite oder im Weglassen des Versatzes der Sternreihen.
STATUE OF LIBERTY (Fract’al) 2020
Statue of Liberty (Fract’al) besteht aus einer Reihe von Fotografien, die 2020 auf Liberty Island NYC aufgenommen wurden. In keinem der Bilder ist die gesamte Figur der Freiheitsstatue zu sehen. Vielmehr spielen die Aufnahmen mit dem Mittel der Perspektivverschiebung und dem Topos der Nähe. Die Blickwinkel erscheinen mal zu tief, zu schräg, zu steil, zu nah, um die ganze Figur erfassen zu können.
CHANDELIERS (LittleBoy & FatMan) 2004
LittleBoy & FatMan sind zwei Kristalllüster, die die berühmten historischen Atombomben „Fat Man“ und „Little Boy“ zitieren. In Anlehnung an Kronleuchter im Empirestil des späten 18. Jahrhunderts verbinden LittleBoy & FatMan ein typisch bürgerliches Statussymbol vornehmer Wohndekoration mit der klassischen Form ultimativer Zerstörungswaffen.
SCENIC REVIEW II (WTC) 1997
Die zwei Fotos wurden am späten Nachmittag des 27. Dezember 1997 jeweils von den Dächern der beiden ehemaligen Türme des World Trade Centers („Twin Towers“) aufgenommen. Der Blick ist über die Südbucht auf Staten Island, die Verrazzano-Brücke und weiter auf das Meer gerichtet − ein Doppelporträt der „Position“ des Betrachters entsteht. Die Fotografien sind mit maßgefertig- ten Aluminiumprofilen gerahmt, dem gleichen Material, aus dem die Fassaden der einstigen Zwillingstürme bestanden.
NUIT AMÉRICAINE (Black Light) 2012
Nuit Américaine („Amerikanische Nacht“) ist der etablierte französische Begriff für das Filmen von Sequenzen im Freien bei Tageslicht unter Verwendung von Filmmaterial, das auf Kunstlicht abgestimmt ist. Wenn dieses unterbelichtet wird, sieht alles so aus, als ob es nachts stattfände. Im Englischen wird diese Technik „day for night“ genannt. Nuit Américaine ist ausgeführt in der Handschrift des Künstlers und wurde in Schwarzlicht-Neon hergestellt.
FLAGS (Fabric), 2015
The series FLAGS (Fabric) consists of five large format photographs of old handmade flags fabricated in 1945 during the last days of World War II. The originals were found 60 years later in the attic of a building in Berlin. For the FLAGS project, the flags were photographed each with six high resolution macro takes, thus displaying the historicity of the fabric. In the case of the American flag, the manufacturers made several mistakes in the rendering. For example placing the stars' section of the flag on the right side instead of the left, or omitting the step joint of the star rows.
STATUE OF LIBERTY (Fract'al), 2020
Statue of Liberty (Fract'al) is a series of photographs that were taken in 2020 on Liberty Island in New York City. The entire figure of the Statue of Liberty is not seen in any of the images. The photographs play much more with shifting perspectives and up close topographies. The point of view appears either too low, too slanted, too steep, or too close to get the entire figure into the picture.
CHANDELIERS (LittleBoy & FatMan), 2004
LittleBoy & FatMan are two crystal chandeliers that quote the historic nuclear bombs Fat Man and Little Boy. Referring to Empire style crystal chandeliers dating from the late 18th century, LittleBoy & FatMan translate the essential form of the typical bourgeois status symbol into home décor on a grand scale with the shapes of the classic weapons of mass destruction.
SCENIC REVIEW II (WTC), 1997
Two photographs, each taken from a roof of the former World Trade Center ("The Twin Towers") in the late afternoon of the 27th of December 1997. The view is across the south bay to Staten Island, Verrazzano Bridge, and further out onto the sea – creating a double portrait of the viewer’s position. The photographs are presented in custom made aluminum frames, the same material as the cladding of the Twin Towers.
NUIT AMÉRICAINE (Black Light), 2012
Nuit Américaine (American Night) is the established French term for the film-making process of filming sequences outdoors in daylight using film stock balanced for tungsten indoor lighting, and underexposing the material to appear as if the shots are taking place at night. Nuit Américaine, designed in the handwriting of the artist, is illuminated in neon black light.
NUIT AMÉRICAINE, Lichtskulptur/Light sculpture, Schwarzlicht-Neon/Black Light Neon, 220 × 30 × 10 cm, 2012
"Talkin‘ to me?"
- Anmerkungen von Yvonne Wahl
Flag (Fabric). Das Bild zeigt eine Flagge, die der US-amerikanischen ähnelt. Gefunden wurde sie neben weiteren verschiedener Nationen auf einem Berliner Dachboden. Der Ort nahe dem Bran- denburger Tor und die Auswahl der Staaten legen die Vermutung nahe, dass zum Ende des Zweiten Weltkriegs dem entsprechenden Kriegsgewinner dessen Flagge vom Dach des Gebäudes präsentiert werden sollte. Das hoch aufgelöste Foto im heroischen Format zeigt schonungslos jedes Detail, lässt das offenbar in eiliger Handarbeit Entstandene linkisch und unbeholfen aus- sehen. Die Faszination der visualisierten Geschichte bleibt einem als Kloß im Halse stecken, wenn man realisiert, dass für die Sterne auf dem Banner wahrscheinlich Judensterne der Nazis verwendet worden sind. Ob die verkehrte Anordnung der „Stars and Stripes“ auf eine Dekonstruktion des „Mythos Amerika“ anspielt, bleibt allerdings wie vieles spekulativ.
Die Arbeit Chandeliers beinhaltet ebenfalls ein Kriegsthema. Mit der Fertigung dieser Kristalllüster in Form der ersten je eingesetzten nuklearen Waffen, der Hiroshima-/Nagasaki-Bomben „Little Boy“ und „Fat Man“, wurden Swarovski-Designer beauftragt. Meist beschäftigen sie sich mit Schmuckgestaltung, in diesem Falle nun mit der Illuminierung von Symbolen, die für Waffentechnik und Massenvernichtung stehen. Die entstandenen bourgeoisen Repräsentationsaccessoires könnte man nahe am Zynismus denken. Definitiv verbinden diese Objekte jedoch in scharfer Formulierung Macht und Sexappeal.
Nuit Américaine (Black Light) hinterfragt Entwicklung und Konkurrenz im Filmgenre. Welche Filmkultur und -industrie dominiert die Terminologie? Europa oder die USA? Eine Machtfrage.
Welche Motive und Bilder schaffen es in die Collective Memory / Collective Imagery? Die Türme des World Trade Centers in jedem Fall. Ihre Abwesenheit in den Perspektiven von jeweils einem der Tower unterstreicht die nachhaltig symbolträchtige Wirkung nach 9/11. Die Arbeit Scenic Review II (WTC) entstand 1997 durch die physische Verbindung von Gebäude und Künstler mit dem Resultat des fotografisch fixierten Blicks − unter anderem auf die Freiheitsstatue.
Der „Leuchtturm am Hafen“ mit Blick Richtung Europa: Liberty, die Freiheit, gesellschaftlich, ökonomisch, ist das Thema US-amerikanischer Identität. Die Statue verkörpert dies als ihr Symbol schlechthin. Der strahlende Kopf mit Krone und dem erhobenen, siegesgewissen Arm hält die Fackel mit dem Feuer, dessen Beherrschung als Urthema des Menschseins bezeichnet werden kann. Es macht unabhängig von den Zwängen der Nacht, die Nahrung besser verdaubar und eine unmenschliche Bewegungsgeschwindigkeit möglich, um nur einige der immanenten (Macht-)Faktoren zu nennen. Statue of Liberty (Fract'al) entzaubert diese leuchtende Macht. In der Nah- perspektive werden Details deutlich, die Arbeitsspuren, die Falten, das Ungeglättete sichtbar.
Aufgewachsen in Westdeutschland als Kinder einer „brainwashed generation“, den Helga, Hanne, Hans und Helmuts, an den Guidelines von My Way und Dankbarkeit für den Marshallplan war die US-amerikanische Kultur maßgebend für die eigene Entwicklung. Trotz scheinbarer Vertrautheit blieben Kleidung, Musik, Filme doch eigenwillig abstrakt. Die Jeans war nie eine Arbeitshose, die Musik in der fremden Sprache oft schwer zu verstehen, Westernfilme sah man als Märchen und nicht als historisch fundierte genuin US-amerikanische Geschichte. Trotzdem faszinierte diese jugendliche, scheinbar unbegrenzte Freiheit. Erst die Reflexionen der Spätwestern wie The Wild Bunch (Sam Packinpah, 1969) oder The Missouri Breaks (Arthur Penn, 1976) offenbarten die Zwanghaftigkeit dieses Freiheitsbegriffs. 1976 lässt Martin Scorsese in Taxi Driver das Thema im zeitgenössischen New York spielen.
Die Szene Talkin’ to me? mit Robert De Niro vor dem Spiegel gehört zur Collective Imagery der Filmgeschichte. Die Pistole als Selbstbehauptungswerkzeug unterstreicht vehement die geforderte Existenzberechtigung eigener Ideen. Ein etwas extremes, aber doch typisch pubertäres Verhalten, das sich gegenüber Eltern, Verwandtschaft, Gesellschaft abgrenzen möchte. Gleicht die Beziehung zwischen den USA und Europa womöglich dem System einer Familie? Eng verbunden bewundern wir einerseits ungebremsten Mut bis hin zur Waghalsigkeit, umgekehrt wird sich auf Europa als Wiege westlicher Kultur berufen. 2003 sprach dann der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Zusammenhang der von einigen europäischen Staaten verweigerten Teilnahme am Irakkrieg abschätzig über das „Alte Europa“.
Wer ist nun der Vater? Wer der große Bruder? Die Mutterstatue? − Talkin' to me?
"Talkin‘ to me?"
- Notes by Yvonne Wahl
Flag (Fabric). The image shows a flag that appears similar to the that of the United States. It was found next to flags of various nations in an attic in Berlin. Due to the selection of nations and that they were found close to the Brandenburg Gate, brings one to the assumption that the flag of whoever won the Second World War in the end was intended be flown from the top of the building. The high resolution photo, in something of a heroic format, shows every gritty detail and reveals the apparently hurried handiwork that resulted in an awkward and clumsy appearance. Through the fascinating visual history, a lump forms in your throat as you realize that the stars on the banner were likely Stars of David used by the Nazis. Whether the backwards orientation of the “Stars and Stripes” plays into the deconstruction of the “Mythos Amerika” (the American myth), remains like many things as pure speculation.
The artwork Chandeliers also contains themes of war. Swarovski designers were contracted to construct these crystal chandeliers in the forms of the first ever nuclear bombs that were dropped on the cities of Hiroshima and Nagasaki – “Little Boy and Fat Man”. They mostly deal with jewelry design, in this case they illuminated the objects with the symbols of weapon technology and mass destruction. The resulting accessories representing bourgeois ideals come very close to being cynical. These objects definitely make a sharp formulation binding power and sex appeal.
Nuit Américaine (Black Light) questions film developing and competition within film genres. Which film industry and its associated culture will dominate the terminology? Europe or the USA? It is a question of power.
What images and motifs become part of the collective memory? Definitely the towers of the World Trade Center... Their absence from the view of each individual tower underscores the sustained symbolic effect of 9/11. The artwork Scenic Review II (WTC) was made in 1997 through the physical binding of the building and the artist with the resulting fixed photographic perspectives – including a view upon the Statue of Liberty.
The “lighthouse in the harbor” looking towards Europe: liberty and freedom in a social and economic sense are themes coursing through American identity. As a symbol the statue absolutely embodies these values. The shining head with a crown and the triumphantly raised arm holding a torch lit with fire, mastery of which being a primal theme in human existence. It frees us of the constraints of the night, food cooked with it is easier to digest and it allows for inhuman speed to name but a few of the immanent power factors.
Growing up in West Germany as the children of a “brainwashed generation” – named Helga, Hanne, Hans, or Helmut – raised on the guidelines set in My Way and gratitude for the Marshall Plan, American pop culture was crucial to one’s own development. Even though it all seemed familiar the clothes, music, and films remained willfully abstract. The jeans were never workpants, the music in a foreign language was often hard to understand, the Westerns were like fairy tales instead of films influenced by the genuine history of United States. Still, the apparent unlimited freedom fascinated these youths. The obsessiveness of this concept of freedom was revealed in the reflections of late Westerns like The Wild Bunch (Sam Packinpah, 1969) or The Missouri Breaks (Arthur Penn, 1976). Also in 1976, Martin Scorsese explored this topic in contemporary New York.
The “Talkin’ to me?” scene with Robert De Niro in front of a mirror is part of the collective imagery of film history. The pistols as tools of assertiveness vehemently underline the demand of individual ideas having a right to exist. A rather extreme version of typical behavior during puberty, wishing to differentiate oneself from parents, relatives, and society at large.
Is the relationship between the United States and Europe similar to a family dynamic? Closely bound we wonder on the one side at the unbridled courage that borders on audacity, that on the other side heralds Europe as the cradle of western civilization. In 2003 the then U.S. Secretary of Defense Donald Rumsfeld, regarding some European countries that refused to take part in the invasion of Iraq, spoke disparagingly of the “Old Europe”.
So who is the father? Who is the big brother? The mother statue? – Talkin' to me?
Ausstellungsdokumentation / Exhibition documentation
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Benjamin Renter
©2020 Benjamin Renter, Spor Klübü
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